(AS: Geistlehrerin Lene gibt Anleitung zu einer Meditation mit der Schilderung eines bildhaften, symbolischen Geschehens, über dessen Bedeutungsgehalt sie anschließend auch spricht:)

L: Versuche, der Schwere dieser Erde zu entfliehen und mir zu folgen! Ich möchte deinen Geist zu einem großen Abgrund führen. –

Du stehst vor diesem Abgrund auf der einen Seite, und du solltest ihn unbedingt überqueren, um auf die andere Seite zu gelangen. Aber wie? – Während du dich in meine Worte vertiefst und dir einen solchen Abgrund vorstellst, mache ich dich darauf aufmerksam, dass auf der anderen Seite jemand wartet. Auf der anderen Seite steht dein Erlöser. – Er ruft dir zu: «Komm zu mir herüber, komm mir entgegen!»

Doch die Kluft zwischen Ihm und dir ist groß. – Du fängst an zu beten, denn du willst doch unbedingt auf seine Seite kommen. Allein, auf welche Weise? – Den Abgrund hinabzusteigen, ist dir unmöglich. Du fängst an, zu bitten und zu flehen: «Du, o Herr und Heiland, hast die Macht und die [276 Seitenwechsel 277] Kraft – reiche mir deine Hände und führe Du mich hinüber! Führe Du mich zu Dir! Ich stehe hier und vermag aus eigener Kraft nicht, diesen Abgrund zu überwinden.» – Und du betest inniglich.

Es graut dir vor der Tiefe dieses Abgrundes. Du blickst hinab – wie breit ist doch diese Kluft – Und auf der anderen Seite steht Er. – Zu Ihm hin verlangt es dich, und so kannst du nicht anders als rufen: «Höre mich, Herr, ich flehe zu Dir! Reiche mir deine Hände, damit ich in deine Nähe gelangen kann!» –

Wenn du wahrhaftig innig betest und in großem Verlangen bist, auf seine Seite zu kommen, wird dir Hilfe zuteil. Ein Engel schwebt über den Abgrund. Er trägt ein Kreuz – es ist so lang, wie die Kluft breit ist. Der Engel legt dieses Kreuz von einer Seite zur anderen. So wird es zur Brücke über den Abgrund.

Du könntest jetzt hinüberschreiten über diese Brücke – das Kreuz. – Doch du schaust [277 Seitenwechsel 278] in den gähnenden Abgrund. So schmal nur ist der Steg. – Du könntest bloß einen Fuß vor den anderen setzen. – Die kleinste Unachtsamkeit würde dich in die Tiefe stürzen. –

Er aber steht auf der anderen Seite und ruft dir zu: «Komm zu mir, ich reiche dir meine Hände. Schau nicht zur Seite, schau nicht rückwärts – blicke auf zu mir! Dann wirst du diesen Abgrund überwinden. Komm zu mir!» –

Doch du getraust dich nicht. Zu schmal ist der Steg, zu tief der Abgrund. Wieder betest du: «O du mein Herr und Heiland, komm doch mir entgegen! Führe Du mich sicher an deiner Hand! Ich vermag es nicht, ich bin zu schwach. Mir graut vor der Tiefe.» –

Und der Heiland macht sich auf. Sicher schreitet er auf dem schmalen Weg dir entgegen. Er reicht dir beide Hände und spricht zu dir: «Wir müssen auf die andere Seite gehen, wir beide müssen diesen Abgrund überwinden!» [278 Seitenwechsel 279]

Für Ihn ist es leicht, aber schwer ist es für dich, das weißt du. Doch du hast gesagt: «Reiche mir deine Hände, und ich will Dir entgegengehen!» An seiner Hand willst du dich sicher fühlen. Wenn Er dich führt, willst du dich nicht fürchten vor der Tiefe dieses Abgrundes. Mit Ihm würdest du getrost und ruhig auf dem schmalen Steg hinübergehen.

Er steht vor dir und spricht: «Komm zu mir, reiche mir deine Hände! Gemeinsam gehen wir über diesen schmalen Steg!» Und Er geht rückwärts. Sicher ist sein Schritt. Du reichst Ihm deine Hände. Du gehst vorwärts. Es ängstigt dich vor der Tiefe dieses Abgrundes. Ein Fehltritt – und du wärest verloren. Aber Er hat dir seine Hand gereicht, und so fühlst du dich sicher. –

Freilich musst du ganz sorgsam einen Fuß vor den andern setzen, um Ihm folgen zu können. Er tröstet dich, spricht dir Mut zu auf dem Weg hinüber. Denn schon habt ihr [279 Seitenwechsel 280] euch vorwärts bewegt. – Er mahnt dich: «Blicke nicht in die Tiefe hinab, sondern schau auf zu mir! Ich führe dich sicher, sei getrost!»

Doch bist du gleichwohl noch voller Angst und hast nur den einen Wunsch, schon auf der andern Seite angelangt zu sein. – Du kannst die Augen nicht schließen, denn du musst mit größter Achtsamkeit einen Fuß vor den andern setzen. – Aber in dir ist auch Hoffnung. Du sagst dir: «Er gibt mir seine Hand – an seiner Hand kann ich nicht verloren gehen.» – So schwebst du zwischen Hoffen und Zagen. –

Endlich ist die andere Seite erreicht – du bist drüben, du atmest auf, du bist so glücklich, so froh! – Du kniest nieder und willst Ihm danken dafür, dass Er dich so sicher über diesen schmalen Steg geführt hat. Doch indem du in dieser Absicht niedersinkst, ist Er verschwunden. –

Allein stehst du da, allein auf der anderen Seite. Du hast nur zu staunen, auch über [280 Seitenwechsel 281] dich selbst, und dankbar bewunderst du Ihn: «Wie herrlich wurde ich geführt!»

Lieber Bruder, liebe Schwester, betrachte doch dein Leben, betrachte dich selbst in deinem Alltag! Da, wo du dich bewegst, ist gar manchmal nur ein schmaler Steg – und der Abgrund, über dem du stehst, ist tief und breit. – Nur wer im festen Glauben und in der gewissen Hoffnung auf göttliche Hilfe lebt, vermag diese Kluft sicher zu überwinden. Doch wer seinen Blick nicht auf Ihn richtet und strauchelt, den reißt es in den Abgrund. – In den Abgrund der Versuchung, der Sünde. – So bald ist es geschehen. – Man hat den sicheren Weg verlassen und sich selbst in den Abgrund gestürzt. – Man hätte das Ziel sicher vor sich gehabt, aber man war unachtsam und verlor den Boden unter den Füßen. –

Wenn du meditierst und über dein Leben nachsinnst, so erkennst du: gar manches Mal, wenn man in großen Nöten war, wurde die Kluft überwunden; aber gar manches [281 Seitenwechsel 282] Mal stürzte man auch in den Abgrund. – Wie schwer war es dann, sich aus der Tiefe wieder herauszuschaffen – zumeist nur mit eigener Kraft. – Ist man nach einem solchen Sturz wieder auf festem Boden, erkennt man, dass schon wieder ein solcher Steg auf einen wartet, der überquert, überwunden werden muss. – So ist es im Menschenleben: immer wieder muss man überwinden. Man muss auf die andere Seite gelangen. Man muss einen Fuß sorgsam vor den anderen setzen, darf nicht vom wahren Weg abkommen. Du kannst es, wenn du deinen Blick auf Ihn gerichtet hältst! –

Wenn du die Hand spürst, die dich führen will, bedeutet es dir Trost und Hilfe. Betrachte doch dein Leben: immer ist ein solcher Abgrund da. – Beim einen ist er zu seinem Glück vielleicht weniger tief, und er vermag sich ohne allzu große Schwierigkeiten wieder aus ihm herauszuarbeiten, während ein anderer nur mit größter Mühe aus dem Abgrund emporzusteigen vermag. [282 Seitenwechsel 283]

Überall sind solche Klüfte. Überall sind Hindernisse aufgerichtet, um den Menschen zu Fall zu bringen. Aber wenn du dich einen Christen nennst, und wenn du Vertrauen hast, dann sollst du mit sicheren Schritten den schmalen Balken überqueren können.

Denn das Kreuz Christi gibt dir Kraft, und Er ruft dir zu: «Ich bin das Licht! Ich bin der Weg! Ich bin die Wahrheit!» Wie kannst du da noch zweifeln? Sicheren Schrittes geh‘ über diesen schmalen Steg, und sei dir bewusst, dass du nicht allein bist, dass deine Hände gehalten werden und du geführt wirst – hinüber auf die andere Seite. –

Die andere Seite: das ist das höhere Leben. In wahrer geistiger Freude und Glückseligkeit will man dich sehen. Das andere Ufer sollst du erreichen, um schon als Mensch in das andere Reich einzutreten – in das Reich Gottes. Dort sollst du nach Gottes Gesetzen leben und wandeln, im Paradies auf Erden – schon als Mensch. Darum stärke du [283 Seitenwechsel 284] dich im Vertrauen, in der Hoffnung auf Ihn! –

Und nun heiße ich dich, den ‚goldenen Weg‘ zum anderen Ufer zu beschreiten. – Dieser goldene Weg ist der Weg der Toleranz, der Duldsamkeit.

Wenn ein Mensch ganz Güte und Verständnis ist, hat er sich selbst diesen goldenen Weg bereitet. Fast möchte ich sagen: ein Mensch, der Toleranz vorlebt, schreitet in goldenen Schuhen auf goldenem Weg. –

Fremd ist ihm alle Kleinlichkeit, alle Aufdringlichkeit, aller Fanatismus. Aus ihm dringen nur Herzensgüte, Verständnis, Barmherzigkeit. Der duldsame Mensch wird seines ausgeglichenen Wesens halber bestaunt, umjubelt.

Hast du ein ausgeglichenes Wesen, so bist du ein glücklicher Mensch. (AS: Der Ausdruck ‚Goldener Weg‘ taucht bei Lene bereits am 17.9.1960 im ersten Vortrag der September-MW 1960 in Hemberg auf, indem sie formuliert: „Wenn man den ‚goldenen Weg‘ kennt, weiß man, was man zu tun hat.“ Dieser Vortrag ist in GW Nr. 5 u.6 von 1961 veröffentlicht.)

(L, 24.9.1960 – in „Meditationen“, von W.  Hinz zusammengestellt, S. 276 ff. Das korrekte Datum des Vortrags ist der 23.9.1960, entsprechend vorhandenem Tonvortrag und sonstigen Datumsangaben in der GW zur MW 1960; dieser Vortrag ist nicht in der GW veröffentlicht worden!)