(AS: Aus einer Anleitung zur Meditation von Geistlehrerin Lene:)
L: Liebe Geschwister, man kann auf vielerlei Art meditieren, und ich betone immer wieder: wir sprechen in Bildern, denn diese Sprache kann eure Seele am besten verstehen. Damit dringe ich durch den äußeren Menschen, weiter in euch hinein, denn ich möchte eure Aufmerksamkeit voll und ganz erfassen.
Nun, liebe Geschwister, ich möchte euch begleiten auf der langen Straße eures Lebens, und wir betrachten die vielen, vielen Begegnungen. Begegnungen mit Menschen, Begegnungen mit Jenseitigen. Wunderbar ist die erste Begegnung auf dieser langen Straße: die Menschwerdung, die ich nun etwas näher mit euch betrachten möchte. Wie wunderbar ist doch ein solch kleines Geschöpf. Es ist hilflos, vollkommen auf Fürsorge angewiesen. Damit hat Gott etwas Kostbares in die Hände der Mutter gegeben, auf dass sie es sorgsam hege und pflege.
Aber nicht überall sind diese kleinen Erdenbürger willkommen, nicht überall kann man ihnen diese Sorgfalt und Liebe geben; denn vielleicht hat die Mutter in ihrem Herzen selbst keine Liebe. Mit Abscheu sprecht ihr von einer Mutter, die ihrem Kind das Leben nimmt, weil es unwillkommen war. Abscheu erweckt eine solche Tat in euch. Denn ihr betrachtet das Leben als das höchste Gut und ihr könnt nicht verstehen, warum eine Mutter zu solch schrecklichem Tun imstande ist, während sie sonst der Inbegriff von Liebe, Aufopferung und Fürsorge ist. Aber auf der langen Straße des Lebens begegnet man allerlei für Leuten, und bei näherer Betrachtung hat man nicht mehr so sehr das Recht, über diese sündigen Menschen herzufallen. In der Meditation muss man viel tiefer gehen. Mitleid muss dabei über einen kommen.
Es ist selbstverständlich, dass eine solche Tat schrecklich ist und dass man solche Menschen tadeln muss. Doch möchten wir den Tadel jenen überlassen, die sich in ihrem Herzen und in ihrer Seele gereinigt haben, die sich nicht so über den Nächsten herstürzen, auch wenn er noch solch eine schreckliche Tat vollbrachte. Ich möchte euch an die Worte Jesu erinnern, als eine Frau der Untreue bezichtigt wurde und sie gesteinigt werden sollte, da erklärte man ihm: „Wir haben das Recht sie zu steinigen, sie zu töten, weil sie gesündigt hat vor Gott.“ Da sprach Christus: „Wer von euch ohne Schuld ist, der hebe den ersten Stein!“
Christus wusste genau, dass diese Frau eine Sünde begangen hatte, aber niemand hatte das Recht, in der Weise über sie herzufallen. Doch wie oft geschieht es, dass man bei der kleinsten Ungerechtigkeit über den Nächsten herfällt! Wenn man tiefer hinein geht und diese große Schuld einer Mutter betrachtet, die eine solch schreckliche Tat vollbrachte, dann muss man sich fragen: „Trage nicht auch ich einen Teil der Schuld? Oder ist das ganz allein ihre Schuld?“
Es gibt nämlich auch Kollektivschulden! Aber man besinnt sich nicht darauf und man bedenkt nicht, woher man kommt und wie man aufeinander angewiesen ist, wie oft man dem Nächsten mit großer Herzenskälte begegnet, ihn nicht versteht, wenn er in Unglück und Not gerät. Es fehlt an Liebe und Verständnis, weil man nur um sich und seine Familie besorgt ist. Und man denkt nicht an die große Schuld, die auf der Menschheit lastet, [251 Seitenwechsel 252] die an der Wurzel angefasst werden muss. Wenn in der christlichen Lehre so viel von Liebe und Opferbereitschaft gesprochen wird, sollten auch jene davon angesprochen werden, dass sie nie zu einer solchen Tat fähig werden. Da hat nicht nur der Einzelne versagt, sondern alle mit dazu. Auf dieser langen, gemeinsamen Straße der Menschheit soll sich keiner erheben und sagen: „Ich bin besser, ich wäre nie fähig zu einer solchen Untat.“
Ja, gerade wer so spricht, ist mitschuldig an den Untaten anderer, wenn er nichts unternimmt zum Wohl der Allgemeinheit, wenn er nicht mithilft an den Liebeswerken und solchen Organisationen, die das Niedere, das Böse bekämpfen. Warum bringt es der Mensch nicht fertig, so nahe an den anderen heranzurücken, dass er ihm Vertrauen schenken kann? Warum versteckt sich der eine vor dem anderen? Warum will er ihm nichts offenbaren? Er will es nicht, weil er keinen Glauben und kein Vertrauen hat und weil er weiß, dass man ihm doch nicht helfen kann.
Ich möchte es jedem sagen: Jeder ist mitschuldig, wenn ein anderer eine große Untat begangen hat. Denn ihr seid gemeinsam von Gott getrennt worden (beim großen Abfall). Gemeinsam müsst ihr diese Straße des Lebens dahinschreiten. Gemeinsam müsst ihr das Schicksal tragen und miteinander müsst ihr gehen. Man muss den Schwachen stützen, man muss ihm helfen, dann tut man das Richtige. Wenn man dies verstehen kann, dann versteht man die Liebe Gottes. Denn wenn einer noch so ein großer Sünder ist, Gott wendet sich nicht ab von ihm. Der Strafe entgeht er nicht, aber so für alle Zeiten ausgestoßen, das wird er nicht (AS: d.h. in der Konsequenz: eine ‚ewige Verdammnis, wie von den christlichen Kirchen gelehrt, gibt es nicht!). Sondern immer und immer streckt Gott seine Hand aus nach seinen Kindern, denn er will sie wieder aufnehmen. Und wenn ihr bedenkt, welch große Geduld seine Engel mit jedem Menschen haben müssen, dann sollte sich jeder bewusst sein: „Ich habe nie das Recht andere zu verurteilen.“ Ja, richte nicht, damit auch über dich nicht gerichtet werde!
Diese Worte Christi werden einfach so flüchtig vom Menschen gebraucht, wenn er glaubt, dass es am Platze wäre, sie nachzusagen. Aber den tieferen Sinn dieser Worte kennt er nicht. Es ist im Allgemeinen so: größeres Mitleid, größeres Bedauern muss man mit jenen haben, die gefallen sind. Und man muss – wie wir (AS: Geister Gottes – Lene ist ein Engel, der nicht am einstigen Abfall teilgenommen hat!) es tun – die Gelegenheiten benutzen, um sie aufzurichten und immer eine Stütze zu sein. Man darf sie nicht darnieder liegen lassen, man muss ihnen helfen. Das ist eure Pflicht. Was dann die Gotteswelt mit ihnen tut und wie sie jene Gefallenen belehrt, das ist eine andere Sache, da muss die Seele ihre Läuterung finden.
Indem wir diese Güte und dieses Verständnis vom Menschen verlangen, wollen wir alles Niedere aus seiner Seele ausrotten. Wir wollen ihm keine Gelegenheit geben, Böses mit Bösem zu vergelten. Wir wollen seine Gefühle heben und ihn die wahre Liebe lehren. In der Liebe liegt auch die Gerechtigkeit, und die Strafe Gottes trifft den Frevler schon. Doch wieviel Übel tut man seiner Seele an durch das viele Verurteilen anderer! Gut über andere denken soll man und sich kein abschätziges Urteil anmaßen. Bist du ohne Schuld, dann darfst du den Stein heben; bist du es nicht, dann richte nicht, damit auch du nicht gerichtet wirst.
Wie schön ist doch das Gebet, in dem ihr sprecht: „Vergib uns unsere Schuld!“ Ihr seid auch bereit, dem anderen zu vergeben. Ja, es muss ja nicht immer eine Schuld sein, die einen persönlich betrifft, es können auch seelische Belastungen sein. In deinem Herzen befreie dich von Groll und allen verwerflichen Gedanken. Bitte im Herzen nur: „Gott, du liebender Vater, vergib uns!“ Man sieht schon, was du denkst und für wen du bittest. Du musst auf der langen Straße des Lebens auch bereit sein, das Kreuz des andern mitzutragen. Trage es für ihn! Du kannst es!
Ja, nicht nur ihr Menschen bewegt euch auf dieser langen Straße des Lebens. Die Jenseitigen mischen sich ja auch darunter. Sie sehen manchen Kreuzträger, manchen, der das Kreuz tragen muss. Die Engelwelt hat es ihm auferlegt (AS: zu seiner Läuterung!). Und er schleppt sich dahin auf dieser langen Straße des Lebens, unwillig und unzufrieden. Er klagt über seine Last. Wir erblicken auch jene, die dem anderen das Kreuz abgenommen haben, die es freiwillig tragen, sozusagen eine Schuld des andern auf sich nehmen. Und wir sehen sie durch die lange Straße des Lebens wandern, wie sie sich im Stillen und in ihrem Herzen sagen: „O Gott! O du mein Erlöser! Was habt ihr für mich getan! So will ich mein Kreuz tragen und die Last jenes Menschen auf mich nehmen. Wie, das überlasse ich dir. Schenke du mir die Gnade oder führe mich zur Läuterung. Mache es wie du willst, nach deinem Willen soll es geschehen, doch befreie den anderen von der großen Schuld und rechne mir sie an!“
Liebe Geschwister, welch eine fromme Seele muss das sein, die so denken kann! Welch edle Seele muss es sein, die freiwillig ein solches Kreuz auf sich nimmt auf seine lange Straße des Lebens. Lang, lang ist die Straße des Lebens für den Menschen. Wir freuen [252 Seitenwechsel 253] uns, auch solche Begegnungen zu haben. Sie sind selten, diese Begegnungen.
… Wohl mögt ihr jetzt in dieser Stunde denken: „Ja, ich will auch das Kreuz eines anderen tragen.“ Aber, meine Lieben, so schnell geht das nicht. Wir kennen solche spontanen Wünsche zu gut. Denn morgen oder übermorgen denkt man wieder reuig: „Was habe ich da für einen Entschluss gefasst! Ich bin doch nicht fähig dazu.“
Nein, wir prüfen schon zuerst den Menschen, bevor wir ihm das Kreuz auferlegen, das er freiwillig auf sich nehmen will. Nicht er kann es bestimmen und sagen: „Legt mir eines auf, es kann noch so schwer sein, ich bin stark genug!“
Nein, nein, auf der Straße des Lebens sind nicht nur Engel Gottes, auch die Geister der Versuchung und der Verführung sind hier anzutreffen. Darum bestimmen wir, wer fähig ist das Kreuz freiwillig zu tragen. Wohl schätzen wir den, der solch edlen Denkens fähig ist, aber wir sehen mehr als nur den frommen Wunsch und das plötzliche Verlangen zu solchem Tun. Wir sehen ja die Vergangenheit des Menschen, wir sehen ja seine Zukunft und die Gegenwart, in der er lebt. Die ist ja so lebendig in uns. So wollen wir uns nicht aussichtslosen Dingen zuwenden, und wenn ihr glaubt, es könnte doch von Gutem sein und einer könnte sich ändern, so sage ich euch: wir täuschen uns nicht. Lieber sagen wir ihm im Geiste: „Trage du deine eigene Last, trage sie tapfer und mutig, dann erreichst du auch dein Ziel.“
Aber neben den eigenen Lasten noch die Lasten anderer tragen, das verlangt schon viel. Und darum sind auch diese Menschen selten. Wir aber schätzen uns doch glücklich, dann und wann einen solchen zu finden. Es gibt sie, und sie sind bereit, und wir haben ihnen unser Zugeständnis gegeben.
(L, 20.9.1960, MW 1960/IV – zitiert nach GW 1964/31 – 32; S. 251 – 253)