(AS: Geistlehrer Josef zeigt an Formulierungen des ‚Vaterunser‘ grundlegende Tatsachen und Inhalte der christlichen Lehre auf. Er macht klar, welch ein umfangreicher und wichtiger Bedeutungshintergrund mit den schlichten Worten, die uns Jesus Christus selbst hinterlassen hat, verbunden ist.)
J: Einstmals baten Jesu Jünger ihren Meister: „Lehre uns beten!“ (Lukas 11,1.) Da lehrte Jesus sie jenes Gebet, das noch heute in der Christenheit gebetet wird und das ihr das Vaterunser nennt. Dieses Gebet ist seinem Inhalt nach so reich und hat dem Menschen so viel zu sagen, dass es ihm nicht nur Antwort auf seine Probleme gibt, sondern dass es auch Aufschluss über die christliche Lehre enthält.
Freilich, viele sprechen es als bloßes Lippengebet, ohne dass sie darüber nachdächten. Ja, es gab sogar eine Zeit, da man es für verdienstlich hielt, dieses Gebet so oft und so schnell als nur möglich herunter zu haspeln. Allein, solches Beten findet keinen Anschluss an das Göttliche und hilft dem Menschen nichts. Denn leere Worte bedeuten nichts. Sie sind weder für die Seele des Betenden selbst heilvoll, noch für solche Wesenheiten, die das Gebet als Balsam brauchen. Da solches Beten keine Kraft hat, vermag es ihnen nichts zu geben. Nur wenn ein Gebet aus der Tiefe der Seele aufsteigt und sich mit dem Licht der Seele und mit der von ihr erfassten Wahrheit vereint, wird der Funke, wird das Licht des Gebetes auch auf den übergehen, der dessen [127 Seitenwechsel 128] bedarf – sonst ist es ein leeres Gefasel…
In diesem Gebet, das Jesus gelehrt hat, heißt es: „Dein Reich komme zu uns.“ Der Christ sollte darüber nachsinnen, was mit diesem Reich gemeint ist. Betrüblicherweise aber ist es so, dass man in der christlichen Lehre heute über dieses Reich, dessen Kommen zu erbitten Christus aufgefordert hat, nicht redet – von diesem Reich will man nichts wissen. Obwohl es heißt: „Vater, der Du bist im Himmel“, spricht man von diesem Himmel nicht. Glaubt man überhaupt an diesen Himmel? Als Himmel ist jener Ort bezeichnet, von dem Christus hergekommen war. Es ist der Ort, wo der Vater thront. Es ist das Reich des Vaters und also auch sein – Christi – Reich.
Es ist somit eine andere Welt als diese irdische hier. Doch von jener anderen Welt spricht man nicht. Man steht ihr fremd gegenüber. Es besteht keine Verbindung zu ihr, es sei denn, der einzelne Mensch mache sich aus eigener Erkenntnis, aus eigenem Bedürfnis und Antrieb heraus auf die Suche nach jener anderen Welt.
Von der Zeit an, da Christus seine Lehrtätigkeit aufgenommen hatte, sprach er so viel von diesem anderen Reich, von dem Reich des Vaters, das auch sein Reich sei. Er gab Zeugnis von diesem Reich, von dieser anderen Welt. Doch gerade das wird in der christlichen Religion übergangen. Daher steht ein jeder Mensch vor der Notwendigkeit, sich darüber selbständig eine eigene, höhere Erkenntnis zu erringen. Dazu braucht es keine [128 Seitenwechsel 129] neue Religion. Ich verkünde keine neue Religion. Ich möchte nur, dass der Christ aus eigener Kraft zu höherem Bewusstsein kommt und versteht, was Christus gelehrt hat.
Liebe und Gerechtigkeit sind grundlegende Teile der christlichen Lehre – aber nur Teile, nicht alles. Mit Tugenden allein kann die christliche Lehre nicht verbreitet werden. Durch sie allein wird der Mensch von heute nicht angesprochen. Er bedarf weiterer Erklärungen.
Jeder Mensch auf dieser Welt ist anerkannter Bürger eines Staates. Seine Staatszugehörigkeit ist verbrieft. So war es auch bei Christus: Er hatte Zeugnis von seiner Herkunft gegeben. Er machte klar, woher er kam und wohin er gehörte. Freilich, wenn Menschen zu einem bestimmten Staat gehören, ist dies eine weltliche Angelegenheit. Hier aber geht es um Geistiges. Christus ist vom Himmel gekommen – das hat er stets bekräftigt.
Darum sollten sich die Menschen über das ewige Leben doch mehr Gedanken machen. Sie sollten über den Sinn ihres eigenen Lebens und über Sinn und Zweck des Menschendaseins Christi nachdenken. Warum musste Christus die Menschwerdung auf sich nehmen?
Darüber wird in der christlichen Lehre so wenig gesprochen. Daher ist es im Besonderen meine Aufgabe, darüber zu reden. So wie der gläubige, fromme Mensch täglich ein und dasselbe Gebet spricht, so werde auch ich immer erneut versuchen, dem Menschen [129 Seitenwechsel 130] klarzumachen, dass er von sich aus imstande ist, zu höherer, besserer Erkenntnis zu gelangen.
Denn es genügt nicht, bloß von der großen Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu reden – es braucht in diesem Zusammenhang mehr. Ich habe wohl betont, dass Liebe, Gerechtigkeit und die Tugenden überhaupt Grundlage der christlichen Lehre sind. Aber damit ist diese Lehre ihrem Gehalt nach noch nicht ausgeschöpft.
Sobald der Christenmensch erkennt, dass sein Leben gottgewollt ist und er in seinem Erdendasein eine Aufgabe zu erfüllen hat, kommt er in ein ganz anderes Verhältnis sowohl zur christlichen Lehre als auch zu seinen Mitmenschen. Gerade das ist, um was ich kämpfe: dass es endlich dahin kommt, dass man diesen Himmel mit seiner heiligen, mit seiner tätigen und wirkenden Geisterwelt anerkennt. Dass man davon endlich reden kann. Dass der Mensch endlich erfasst, dass es wahrhaftig so ist: Dieses zeitlich begrenzte Leben des Menschen ist nicht alles, sondern es gibt eine Ewigkeit. Wohl lebt der Mensch nur auf Zeit, aber ihm ist Gelegenheit geboten, in eben diesem zeitlich begrenzten Leben Vorbereitungen zu treffen für das höhere, das ewige Leben, das ihm bevorsteht.
Diese Wahrheit ist weithin in Vergessenheit geraten. Oder hat man vielleicht seine besonderen Gründe, nicht über sie zu reden? Dabei ist doch noch so viel von ihr in den heiligen Schriften enthalten. Somit geht es nur darum, die in ihnen enthaltene christliche Lehre, [130 Seitenwechsel 131] die in ihnen überlieferten Worte und Taten Christi mit höherem Denken zu erfassen. Man darf über das darin festgehaltene Geschehen nicht einfach hinweglesen, vielmehr muss man sich darüber Gedanken machen. Wer sich solche Gedanken macht, wird auch erkennen, dass das, was ich im Einzelnen erkläre, zutrifft. Das ganze Gebäude dieses geistigen Aufbaues muss man in Erfahrung bringen. Es gilt, den Sinn nicht nur des menschlichen Daseins, sondern allen Lebens auf dieser Welt zu erkennen. Man muss also mehr wissen und erkennen als das, was die Gebote Gottes vorschreiben.
(J, 21.4.1979 – MW 1979/V, S. 127 – 131.)